Es hat sich herumgesprochen, dass Autos bald mehr können müssen als nur auf der Straße zu fahren. Ein mächtiger Trend ist Gesundheit und Wellness. Auf den Fahrer warten immer mehr Wohlfühlfunktionen hinterm Lenkrad.
Bisher gestaltet sich das Thema noch zäh, es gibt kaum Anbieter, die mit frischen Ideen rund um die Gesundheit im Auto vorpreschen. Tatsächlich sind es eher die Hersteller, die Startups auffordern, das Thema zu erkunden. „Bei uns geht es um zwei Themen: Wie lassen sich Gesundheitsservices in neue Wertschöpfungsketten einbauen und wie kann man nachhaltige Geschäftsmodelle daraus machen?“, erklärt Markus Müschenich, Arzt und Gründer des Startup-Inkubators Flying Health.
Seine Auseinandersetzung mit dem Thema Gesundheit im Auto reicht weitaus länger zurück als die Gründung des Inkubators. Schon vor zehn Jahren hat sich Müschenich das erste Mal mit der Frage befasst, wie Gesundheitsinformationen in die Wertschöpfungskette Auto einfließen können. Was damals noch seltsam anmutete, ist heute vorstellbar geworden: Automotive Health beginnt dort, wo der Autokäufer vorab seine Röntgenbilder von der Wirbelsäule mitschickt, damit die Sitze entsprechend ausgewählt werden können. Immerhin verbringen Europäer rund 3,5 Jahre ihres Lebens im Auto, berichtet Müschenich.
Die Szenarien reichen weiter: Schon bald könnte es nicht nur besondere Pollenfilter für Allergiker geben, sondern auch eine Überwachung des Blutzuckerspiegels während der Fahrt. „Aus unserer Sicht hat in der Zukunft die Analyse durch Wearables in Verbindung mit KI ein Potenzial für Fahrer im Auto“, sagt Esteban Bayro Kaiser, CEO und Co-Founder des Startups WearHealth. Solche Ansätze würden sich jedoch nicht auf das Auto beschränken, wesentlich sei die Einbindung in den Gesamtkontext dessen, was der Fahrer auch außerhalb des Autos tut.
Die Gründer befassen sich vor allem mit Industrieszenarien, mit Blick auf den Arbeitsschutz. Der Fokus liegt dabei auf smarten Uhren, intelligenter Kleidung, Kopfhörern und Kameras. „Wenn ein Nutzer bereits Daten für seine Fitness sammelt, wird es für ihn Sinn machen, diese Daten auch für weitere Zwecke einzusetzen“, ist sich Bayro Kaiser sicher. Die Anzahl der Wearables steigt kontinuierlich – laut Statista von 132,9 Millionen weltweit verkauften tragbaren Geräten in diesem Jahr auf geschätzte 219,4 Millionen im Jahr 2022.
Hinsichtlich der Car-IT denkt das Startup perspektivisch über die Bereiche Einschlaf- und Stresserkennung nach. Auf Basis der Stresslevelanalyse könnten Fahrer zum Beispiel Tipps bekommen, wie sie damit umgehen können. Auch automatische Änderungen an Temperatur, Sitzkomfort oder Beleuchtung sind ein Thema. Ein Austausch von Gesundheitsdaten zwischen Wearables und dem Auto würde über einen Cloudservice über standardisierte Schnittstellen erfolgen. OEMs könnten dann die Analysen des Startups einbeziehen. „Die Autohersteller werden sich in Zukunft damit beschäftigen müssen, kontinuierlich weitere Services anzubieten“, meint Bayro Kaiser.
Die Idee vom autonomen Fahren beflügelt die Debatte. „Das Auto ist ein ähnlich geschützter Raum wie das Sprechzimmer eines Arztes. Warum also nicht den Arzt zur Sprechstunde ins Auto holen?“, fragt sich Markus Müschenich. Zu den Startups von Flying Health gehört zum Beispiel Patientus, eine Onlineplattform für Videosprechstunden. Das funktioniere nicht einfach über Skype, sondern sei ein Medizinprodukt, das maximalen Anforderungen an den Datenschutz gerecht werde, sagt Müschenich.
Vorausgesetzt wird allerdings, dass auch in Zukunft wie bisher ein Mensch ein Auto fährt – ein Widerspruch zur Idee der Robotaxis, die die Wege mehrerer Menschen koordinieren. Soll es doch ein physischer Arztbesuch werden, könnte das Navi künftig einen Arzttermin passend zum Standort buchen und den Termin automatisiert mit dem Onlinekalender des Arztes abgleichen.
Szenarien wie die Onlinesprechstunde habe man beispielsweise mit Audi diskutiert und gemeinsam den Claim entwickelt: „Der Fahrer steigt gesünder aus als ein.“ Fragen gibt es reichlich: Sollte ein Spezialist hinzugezogen werden müssen, wie kommt der Fahrer/Patient dorthin? Wo ist die nächste Apotheke, in der ein benötigtes Medikament abgeholt werden kann? Kann das Auto seinen Insassen im Notfall selbstfahrend ins nächste Krankenhaus bringen? Ein großes Fragezeichen steht auch hinter den Bezahlkonzepten: Ist die Gesundheit in den Kaufpreis des Autos eingepreist oder zahlen die Kassen?
Ärzte zeigen derzeit kaum Interesse an Onlineberatungen, da sie nicht gut bezahlt werden, weiß Müschenich. Eine weitere Hürde soll voraussichtlich abgeschafft werden: Bisher darf ein Arzt nur Patienten beraten, die er persönlich kennt. Denkt man an den Ärztemangel, stundenlange Wartezeiten und die vielen Praxen, die von so etwas wie Terminmanagement meilenweit entfernt sind, klingt der Arztbesuch im Auto rein organisatorisch stark nach Utopie.
Das Startup MySugr, ebenfalls unter dem Schirm von Flying Health angesiedelt, hat ein Diabetikmanagementsystem entwickelt, das auf fertige Sensoren zurückgreift, die den Blutzucker messen. Immerhin 1,3 Millionen Diabetiker nutzen MySugr weltweit. Auch Gesichtserkennung kann genutzt werden, dabei lässt sich laut Markus Müschenich über Gestik und Mimik der Gesundheitszustand des Fahrers beurteilen. Die Möglichkeiten reichen von der rechtzeitigen Erkennung eines Schlaganfalls bis zur Bestimmung des Zeitpunktes, wann ein Fahrer vermutlich einschläft.
Das Auto kann dann automatisiert einen Nothalt einleiten. Auch bei anderen chronischen Krankheiten wie Rückenschmerzen oder bei psychischen Problemen könnte das Fahrzeug Teil des Gesundheitskonzepts sein. Zwar sei die Nutzung der Fahrzeugdisplays und die Integration mit dem Auto wichtig, verbindendes Element bleibe jedoch in den nächsten Jahren das Smartphone, weil Gesundheits-Apps immer übergreifend funktionieren müssten. Flying Health arbeitet indes schon an der nächsten Connector-Generation wie Smart Glasses.
Bilder: Hyundai, Flaticon