Seit 130 Jahren sind Mobilität und Autos dogmatisch aufs Engste miteinander verwoben. Trotz einer Vielzahl neuer Technologien und Nutzungsszenarien wird das so bleiben. Die Beharrungskräfte sind stark.
Die Freiheit auf vier Rädern gleicht einem mystischen Traum, der schwer greifbar ist: Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die industrielle Fertigung von Autos einsetzte, konnten sich nur betuchte Haushalte ein Modell T von Ford leisten. Heute stellen selbst hohe Anschaffungspreise im Premiumsegment dank ausgefeilter Finanzinstrumente und einer aggressiven Push-Strategie der Hersteller keinen Grund mehr dar, auf ein eigenes Fahrzeug zu verzichten. Folge: Immer mehr Ballungsräume ertrinken förmlich in Autos. Meldeten zunächst nur Millionenmetropolen wie Los Angeles oder Schanghai Tag für Tag überlastete Verkehrswege, schieben inzwischen Berufspendler selbst in deutschen Ober- und Mittelzentren eine gewaltige Frustwelle vor sich her. Je mobiler die Gesellschaft, desto weniger Spaß macht es, in einem Auto unterwegs zu sein.
Die Zeichen stehen auf Neue Mobilität
Autohersteller auf der ganzen Welt haben erkannt, dass sie ihre Produkte emotional neu aufladen müssen. In den TV-Werbespots für aktuelle Modelle dominieren nicht länger Drehmoment und Sicherheitsausstattung, sondern Assistenzsysteme und Konnektivität. Die Mobilität der Zukunft soll sicher und nachhaltig sein und die Digitalisierung der Steigbügelhalter für neue Mobilitätskonzepte. Der Trend führt weg vom Individualfahrzeug, das die meiste Zeit ungenutzt herumsteht, ob zuhause in der Garage oder tags- über auf dem Firmenparkplatz. Schon heute und in Zukunft noch viel öfter werden Verkehrsträger auf Zeit gemietet, geteilt und frei kombiniert, ganz nach Bedarf. Die Zahl batterieelektrisch betriebener Modelle und Carsharingflotten soll bei allen Hersteller kräftig zulegen. Auf dem Realitätsprüfstand verlieren solche Marketingvisionen allerdings an Strahlkraft. Tatsächlich zeigen die Zeichen in eine ganz andere Richtung: Der weltweite Benzinverbrauch für Autos mit Verbrennungsmotoren ist 2016 erneut angestiegen, allein in den USA wurden 17,5 Millionen Pkw und Pickup-Trucks neu zugelassen. Gleichzeitig ist die Eisenbahninfrastruktur vielerorts stark renovierungsbedürftig, überfüllte Nah- und Fernverkehrszüge stoßen regelmäßig an ihre Kapazitätsgrenzen. Die Mehrzahl der Waren, die Asien produziert, erreicht uns auf Schiffen, die den schmutzigsten Treibstoff überhaupt verbrennen. Schöne neue Welt.
Die Hemmnisse der alten Welt
Die Folgen von Globalisierung, Verstädterung und Klimawandel belasten auch die Infrastrukturen in Deutschland. Rund 26 000 Eisenbahnbrücken rotten vor sich hin, im Herbst 2016 musste die Bundesregierung erneut ein milliardenschweres Programm freigeben, um marode Straßen zu sanieren. Flickschusterei im großen Teppich der nationalen Grundausstattung und nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs. Weil die Unterhaltskosten die Budgets inzwischen komplett auffressen, wird der Besitzstand zu einem Hemmschuh für Innovation, nicht nur im Verkehrsbereich, sondern auch bei anderen volkswirtschaftlich wichtigen Einflussfaktoren wie Energie, Gesundheit, Verwaltung, Bildung und Kommunikation. Zur Bewältigung der rein analogen Instandhaltung gesellen sich die Herausforderungen der Digitalisierung: Praktisch alle Infrastrukturen stehen durch den Einsatz von Informationstechnik vor einem tiefgreifenden Wandel. Das Auto mutet in diesem Gesamtbild nur wie ein kleines Puzzlestück an. Davon gibt es in Deutschland und in Europa aber noch (zu) viele.
„Prinzipiell ist den meisten Herstellern klar, dass das fossile Zeitalter zu Ende geht“, sagt Stefan Bratzel vom Center of Automotive Management in Bergisch Gladbach. Der Experte warnt vor überhöhten Erwartungen an einen schnellen Übergang zur Elektromobilität. „In fünf Jahren geht es nicht, und auch zehn Jahre werden schwer.“ Autonomes Fahren, um noch eine Schippe draufzulegen, kommt nur als inspirierendes Wunschbild daher – nicht unmöglich, aber weit weg, trotz der neuesten Erfolge auf Forschungsgebieten wie künstliche Intelligenz und selbstlernende Systeme. Dass immer mehr Hersteller futuristische Fahrzeugstudien präsentieren, bei denen das Lenkrad wegklappt und der Fahrer mehr Bewegungsfreiheit im Cockpit erhält, hilft nicht weiter. Natürlich verschwinden mit einem elektrischen Antriebsstrang bautechnische Hindernisse wie Getriebetunnel und Auspuffkanal. Das klassische Armaturenbrett hat ebenso ausgedient wie die Mittelkonsole, in der heute vom Entertainment bis zur Klimatisierung die Mehrzahl der Innenraumfunktionen konzentriert ist. Aber neben frischen Ideen für Design, Funktionalität, Oberflächenoptik und Materialmix ist Elektromobilität eben auch auf externe Erfolgsfaktoren wie Energie und Bildung – sprich Ingenieurnachwuchs – angewiesen, um nur die beiden wichtigsten Disziplinen außerhalb der Automobilbranche zu nennen.
Ist der Kampf ums autonome Auto entschieden?
Immerhin: Mit Ausnahme von Tesla hat die Branche alle disruptiven Angriffe aus dem Silicon Valley abgeschmettert. Apple hat sein Geheimprojekt Titan eingestampft, Google hunderte von Automotive-Experten entlassen. Kein Tech-Unternehmen spricht mehr davon, selbst ein Auto bauen zu wollen, weil die erzielbaren Margen eher bei zehn Prozent liegen als bei 40, so wie es die Plattformgiganten gewohnt sind. Das Rennen um die Vorherrschaft im Bereich Hardware scheint entschieden, in Detroit, Wolfsburg, München und Stuttgart ist ein tiefes Aufatmen zu hören. Vieles spricht dafür, dass im Zentrum der Mobilität von morgen und übermorgen weiterhin Karossen nach klassischem Vorbild stehen werden – und keine Züge, die mit Sonnenenergie fahren, oder Hyperloop-Kapseln, die ein Magnetfeld in der Schwebe hält. Schade eigentlich.
Autor: Ralf Bretting
Bild: Daimler
Dieser Artikel erschien erstmals in carIT 02/2017